Ahrenshooper Erinnerungen von Paul Müller-Kaempff


Paul Müller-Kaempff kam als 28 jähriger 1889 erstmals nach Ahrenshoop. Er befand sich in Begleitung seines Freundes und Kollegen, dem Tiermaler Oskar Frenzel (12.11.1855 Berlin - 15.05.1915 Berlin).
 
“Das hohe Ufer" – diesen Blick müssen Paul Müller-Kaempff und Oskar Frenzel gehabt haben, als sie von Wustrow aus Ahrenshoop entdeckten, Postkarte um 1895, Privatbesitz Deckblatt des Mecklenburgischen Monatsheftes Juli 1926, Regionalarchiv Ahrenshoop
   
Aus Wustrow kommend, war er überrascht, als er vom Hohen Ufer aus das kleine verschlafene Ahrenshoop erstmals erblickte. Zu diesem Zeitpunkt wird Müller-Kaempff wohl nicht geahnt haben, welche herausragende Bedeutung dieses Erlebnis für seine künstlerische Laufbahn und auch für die weitere Entwicklung des Ortes Ahrenshoop haben würde. Diese „Entdeckung“ war der Ausgangspunkt in seiner späteren künstlerischen Wahrnehmung, und für das Dorf Ahrenshoop bedeutete die „Entdeckung“ durch Müller-Kaempff das Ende des abgelegenen und unbekannten Status des Fischerdorfes. Es begann für Ahrenshoop nicht nur die Entwicklung zu einer überregional wahrgenommenen Künstlerkolonie, sondern Ahrenshoop entwickelte sich ebenso zu einem bekannten Bade- und Erholungsort an der Ostsee. Durch die spätere Ansiedlung der Maler und den Verkauf ihrer Ölbilder mit regionalen Fischländer Motiven wurde die landschaftliche Schönheit um Ahrenshoop breiteren Bevölkerungsschichten bekannt gemacht.

 

Auf den folgenden Seiten fasste der 65 jährige Paul Müller-Kaempff seine Erinnerungen an Ahrenshoop zusammen und veröffentlichte diese in den Mecklenburgischen Monatsheften ( Heft 7/ 1926). Es sind die einzigen bisher bekannten schriftlichen Zeugnisse aus der Anfangszeit der Künstlerkolonie Ahrenshoop von einem zeitgenössischen Mitglied. Lassen wir Paul Müller-Kaempff selber zu Wort kommen:
   
Foto von Paul Müller-Kaempff aus den Mecklenburgischen Monatsheften Juli 1926, Regionalarchiv Ahrenshoop    
     

„Im Spätsommer 1889 hielt ich mich mit meinem Kollegen, dem Tiermaler Oskar Frenzel, in Wustrow auf dem Fischlande auf, um Studien zu malen. Gelegentlich einer Wanderung am Hohen Ufer lag plötzlich, als wir die letzte Anhöhe erreicht hatten, zu unseren Füßen ein Dorf: Ahrenshoop. Wir hatten von seiner Existenz keine Ahnung und blickten überrascht und entzückt auf dieses Bild des Friedens und der Einsamkeit. Kein Mensch war zu sehen, die altersgrauen Rohrdächer, die grauen Weiden und grauen Dünen gaben dem ganzen Bilde einen Zug tiefsten Ernstes und vollkommener Unberührtheit. So sah Ahrenshoop damals aus. Nirgends ein öder Nützlichkeitsbau mit Pappdach, nichts was den Gesamteindruck störte; die Dorfstraße sehr breit und sandig – man sagte: den Ahrenshooper erkennt man an seinem Gange -, kein Drahtzaun, keine Reklametafel. Hinter dem Dorfe auf dem Schifferberge blickte der Kirchhof mit weißen und schwarzen Holzgittern und Kreuzen herüber, überwuchert von goldgelb blühendem Habichskraute. Stieg man weiter hinauf auf die sogenannte Schwedenschanze, so sah man in die Einsamkeit hinaus. Nirgends ein Haus: Dünen, Wald und See, in der Ferne die dunkle Linie des Darß. Die Dünen gekrönt von uralten Weißdornbäumen, Stechpalmen und wilden Rosen.

Das war ein Studienplatz, wie ich ihn mir immer gewünscht hatte!

Schon am nächsten Morgen zogen wir in aller Frühe mit unserm Malgerät hinaus, um abends hungrig wie die Wölfe nach Wustrow heim zu wandern.

Aber eines Tages trafen wir einen Kollegen in den Dünen an seiner Staffelei: Karl Malchin, der mit seiner Familie sich dort eingemietet hatte und eigene Wirtschaft führte, denn ein Unterkommen mit Verpflegung gab es damals noch nicht. Frau Malchin, die sich unserer erbarmte und uns den Weg von und nach Wustrow mit unserem Gepäck ersparen wollte, ging von Haus zu Haus, um ein Unterkommen für uns zu suchen. Und es glückte: ein altes kinderloses Ehepaar nahm uns in ihr Häuschen auf, aber erst mussten wir vor der Frau – Mutter Schumacher – ein Examen bestehen, ob unsere Ansprüche auch bescheiden seien und ob wir immer zufrieden sein wollten mit dem, was sie uns vorsetzte. So zogen wir denn hinaus, von den Wustrowern unter Kopfschütteln bedauert, als ob wir nach Sibirien auswandern wollten. Nun, bei Mutter Schumacher waren wir gut aufgehoben, nur das Bett hatte ich in Verdacht, dass es aus einer mittelalterlichen Folterkammer stammte. Aber was erträgt man nicht und woran gewöhnt man sich nicht, wenn man jung und voller Begeisterung ist! Nun ging ein eifriges Studienmalen los; Jahr für Jahr kam ich wieder, und als ich mir – natürlich auf Schumacher'schem Grund und Boden, ein eigenes Haus mit Atelierfenster gebaut hatte, kam bald Hausbesuch, Freunde und Kollegen, ein fröhlicher Kreis, der sich ganz als Herr der Situation fühlte. Wo ein halbes Dutzend junger Leute zusammen hausen, wird auch bei mäßigem Konsum manche Bierflasche etc. leer, und wenn es lange Wochen dauert, werden es viele. Nun, die leeren Flaschen wurden in einer Ecke des Hofes aufgestapelt, bis mir ein zarter Wink wurde, sie fortzunehmen, denn „die Wustrower kämen Sonntags, um den Flaschenberg anzustaunen“. Eines Tages kamen drei Eingeborene geheimnisvoll zu mir und erzählten nach längerem Zögern, bei einem von ihnen sei ein Fremder angekommen und habe sich dort eingemietet, der ihnen unheimlich sei, es müsse ein Spion sein, vielleicht aus Dänemark. Auf meine Frage, woher dieser Verdacht komme, hieß es dann, der „Kerl“ wäre schon acht Tage da und malte gar nicht! „Wat will hei denn hier, wenn hei nich malt! Dat is en Spion“! Das war der erste Ahrenshooper Badegast.

Meine Malschule brachte aber bald weiteren Zuzug und mit den Schülern und Schülerinnen kamen Freunde und Angehörige. Ahrenshoop wurde bekannt, es entstanden das erste Hotel auf hoher Düne und die ersten Pensionen. Aber am schönsten war es doch, wenn die Badegäste fort waren, wenn der Herbst mit seinen oft noch im November milden Tagen kam, wenn die Birken sich Gold färbten, die Kirschbäume in leuchtendem Rot glühten, im Darss die Hirsche schrien, auf den Feldern die Kartoffelfeuer brannten und die Gärten voll bunter Herbstblumen standen. Kam dann der Winter und brachte Schnee und Eis, dazu blauen Himmel und Sonnenschein, dann erblühte eine Fülle ungeahnter Schönheit.

Und schob der Nordost und jagte mächtige Wellen brüllend an Strand und Dünen, dass diese, oft zur Hälfte fortgespült, senkrecht wie eine Mauer standen, dann war es gar behaglich im eigenen Heim und im freundlichem Verkehr mit Kollegen, die sich allmählich auch ein Heim in Ahrenshoop gegründet hatten. Ich nenne nur Wachenhusen, Richter-Lefensdorf, Grebe und Elisabeth von Eicken, deren schöne Waldbilder im Rostocker Museum hängen. Wie viele Bilder habe ich in den letzten Jahren von Ahrenshoop, Alt und Niehagen gemalt! In alle Winde sind sie zerstreut, bis Argentinien und China. Diese ernste Landschaft sagt meinem Empfinden am meisten zu, so habe ich stets derartige Motive bevorzugt. Wir sollten doch nur unsere Heimat malen, mit der wir verwachsen sind, die uns von Kindesbeinen an vertraut ist, statt uns die Motive aus anderen Ländern zu holen.

So sind die Jahre hingegangen. Mutter Schumacher blieb mir auch im eigenen Hause eine treue Wirtschafterin. Nebenbei richtete sie in ihrem Häuschen einen vielbesuchten Mittagstisch für Badegäste ein und hat in ihrer winzigen Küche oft für 50 und mehr Gäste gekocht. Das heißt, sie kochte auch auf ihrem Hofe und wurde daher einmal feierlich zur „Hofköchin“ ernannt.

Diese Frau war ein Original, in dem von Jahren und harter Arbeit verwitterten Antlitz sah man noch die Spuren einstiger großer Schönheit. Sehr intelligent und von großer Güte ist sie heute noch Hunderten ihrer Tischgäste, darunter nicht wenigen Mecklenburgern, in freundlicher Erinnerung. Sie sprach fast nur platt, nur wenn sie unberechtigte Ansprüche überlegen und oft mit Witz zurückwies, bediente sie sich des Hochdeutschen. Aber ein Wesen gab es, zu dem sie nur Hochdeutsch sprach, das war ihr Hund, ein total missglückter Dackel, oder vielmehr Dackelin mit dem schönen Namen Minka. Sie behauptete steif und fest, Minka verstände kein Platt, da sie aus der Stadt komme, und so hörte ich sie einmal in ihrer Küche sagen: „Meine liebe Minka, möchtest du nun Mittag essen?“ Minka mochte natürlich immer.

Aber dieser unförmig dicke Hund war ein Ausbund von Klugheit, holte er doch auf Mutters Befehl mit unfehlbarer Sicherheit Vater Schumacher von seinen Netzen am Strande, wenn das Essen fertig war. Letzterer war in jungen Jahren Matrose gewesen, war aber kaum über die Ost- und Nordsee hinausgekommen. Doch, einmal war er im Mittelmeer gewesen und von dort hatte er seine schönste Erinnerung mitgebracht. In Messina hatten er und seine Mitmatrosen sich in der nächsten Hafenkneipe an dem ungewohnten feurigen Südwein einen derartigen Rausch angetrunken, dass der Kapitän mit der Abfahrt drei Tage warten musste, bis seine Mannschaft wieder nüchtern war.

In jungen Jahren hatte Mutter Schumacher in einem Predigerhaus gedient und dank ihres glänzenden Gedächtnisses stak sie voll von Zitaten, die aus ihrem Munde sehr drollig klangen. Als ich sie einmal auf dem dunklen Hausflur umgerannt hatte und schon fürchtete, dass sie sich ernstlich verletzt hätte, ertönte plötzlich ihre Stimme: „Nun hast du mir den ersten Schmerz getan“. Es verging kaum ein Tag, an dem sie nicht die kleinen Tagesereignisse mit solch klassischen Zitaten gewürzt hätte. An langen Winterabenden, wenn sie keine andere Lektüre hatte, las sie ihrem Alten Kochrezepte vor, und wenn sie an ein besonders gutes kam, pflegte Vater Schumacher zu sagen: „Mudding, dat kannst noch mal vörlesen, dat sall ja woll to schön schmecken“.

Unter ihren Gästen machte sie keinen Unterschied, Titel und Würden imponierten ihr nichts. Eines Tages hatte eine alte Exzellenz ein Bild von mir gekauft, und als der alte Herr meinte, er habe es sehr preiswert erstanden, sagte Mutter Schumacher: „Schad' nich, Exz'lenz, lütt Veih makt ook Meß“. Ein Vergnügen war es, die alte Frau erzählen zu hören von vergangenen Tagen, könnte sie doch in ihren alten Tagen einige 60 Jahre zurückdenken. So von Schmugglergeschichten, von Schiffbrüchen, Wassersnot und Sturmfluten und von dem im Ahrenshooper Walde spukenden Franzosen, der dort Anfang des vorigen Jahrhunderts hinterrücks vom Pferde geschossen war und mit dessen wohlgefüllter Geldkatze der Führer seinen verschuldeten Hof gerettet haben soll.

Jetzt liegt Mutter Schumacher längst unter dem grünen Rasen, Ahrenshoop ist Badeort geworden, und nur wenige wissen, wie schön es einst war, als es ringsum noch spottweise „Powerdörp“ genannt wurde.“

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